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Beschlussarchiv

E1 2021
Rechtsstaatlichkeit in Europa konsequent verteidigen

Beschluss E1: Rechtsstaatlichkeit in Europa konsequent verteidigen!

1993 hat der Europäische Rat in Kopenhagen Kriterien formuliert, die ein Land erfüllen muss, um Mitglied der Europäischen Union (EU) zu werden. Darunter fällt auch dieses Kriterium: „Institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte sowie Achtung und Schutz von Minderheiten”. Zusätzlich sind sie auch als Grundwerte der Union in Artikel 2 des EU-Vertrags aufgelistet. Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung von Menschenrechten gehören also zu den Kernpfeilern des Selbstverständnisses der EU. In einigen Ländern werden diese jedoch seit Jahren systematisch angegriffen. Angriffe auf die Medienfreiheit in Ungarn, Einflussnahme auf die Justiz und LGBTIQ-freie Zonen in Polen, Pushbacks von Geflüchteten an den EU-Außengrenzen in Griechenland oder Angriffe auf Journalist*innen auf Malta und in der Slowakei. Auch die momentane Lage in Belarus ist erschreckend. Diktator Lukaschenko versucht mit allen Mitteln seine Macht zu erhalten, unterdrückt Menschenrechte, lässt Journalist*innen und politische Gegner*innen verhaften und schickt Geflüchtete an die Grenzen der EU, um diese unter Druck zu setzen. Das sind nur einige Beispiele dafür, wie bedroht Rechtsstaatlichkeit auch innerhalb der EU ist. Die Rechtsstaatlichkeit, verankert in Artikel 2 des Vertrags über die Europäische Union, ist ein Grundprinzip der Union und maßgebend für den Schutz der EU Grundwerte. Besonders der Schutz von Grundrechten und Demokratie ist hier zentral. Für die Funktionsweise der Europäischen Union ist die Rechtsstaatlichkeit also ein entscheidender Faktor. Rechtsstaatlichkeit beruht auf einem wirksamen Rechtsschutz, der nur von einer unabhängigen Justiz gewährleistet werden kann. Denn die EU ist mehr als nur ein gemeinsamer Binnen- und Arbeitsmarkt. Sowohl die Beitrittskriterien, als auch die EU-Verträge, die für alle Mitgliedsstaaten gelten, machen klar, dass die EU eine Wertegemeinschaft ist. Die gemeinsamen Grundwerte ermöglichen es erst, dass die Zusammenarbeit in allen politischen und wirtschaftlichen Bereichen funktioniert. Für uns Jusos ist jedoch klar, dass auch die Kopenhagener Kriterien in ihrer Anwendung, Aktualisierung und Ergänzung bedürfen. Dazu gehört eine kritische Reflektion ihrer jetzigen politischen und wirtschaftlichen Schwerpunkte, beispielsweise um eine Garantie von Pressefreiheit etc. Laut dem EU-Recht gab es bisher zwei Möglichkeiten, um gegen Angriffe auf den Rechtsstaat vorzugehen. Zum einen, steht der EU das sogenannte Artikel 7-Verfahren zur Verfügung. Es umfasst zwei Mechanismen: Präventionsmaßnahmen im Falle einer eindeutigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der EU-Werte, und Sanktionen, wenn eine solche Verletzung bereits stattgefunden hat. Die möglichen Sanktionen gegen den betroffenen Mitgliedstaat sind in den EU- Verträgen nicht klar definiert, aber eine mögliche Sanktion besteht darin, dass der betroffene Staat seine Stimmrechte im Europäischen Rat verliert. Es gibt allerdings einen Haken: um die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit oder anderer EU-Grundwerte festzustellen, braucht es eine einstimmige Entscheidung der Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat.

Dieses Instrument ist nutzlos geworden, da sich nationalkonservative Regierungen gegenseitig decken und eine Sanktionierung unmöglich machen. Zum anderen kann die Europäische Kommission im sogenannten Vertragsverletzungsverfahren den Europäischen Gerichtshof beauftragen, zu überprüfen, ob einzelne Mitgliedsstaaten das EU-Recht nicht umsetzen. Der Gerichtshof kann die Länder dann zu Geldstrafen verurteilen. So geschehen ist das im Fall von Polen, wo mit einem umstrittenen Justizgesetz die Unabhängigkeit von Richter*innen eingeschränkt wurde. Ende Oktober hat der Europäische Gerichtshof deshalb, auf Antrag der Kommission, Polen zu einer Strafzahlung von täglich einer Million Euro verurteilt. Das hat alles sehr lange gedauert und es ist erschreckend, wie wenig Einfluss das Europäische Parlament, die einzige direkt demokratisch legitimierte Institution in der EU, auf den Schutz der Rechtsstaatlichkeit hat. Die S&D-Fraktion hat deshalb bereits im Januar 2020 gefordert, dass im zukünftigen Haushalt der EU die Auszahlung von Geldern an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien geknüpft sein soll.

Dieser Rechtsstaatsmechanismus ist am 1. Januar 2021 in Kraft getreten. Und wieso wurden noch keine Sanktionen verhängt? Das liegt daran, dass die Kommission für die Umsetzung des Mechanismus verantwortlich ist: als “Hüterin der EU-Verträge” ist es ihre Aufgabe, Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedsstaaten festzustellen, deren Regierungen zu verwarnen und anschließend die Kürzung von EU-Geldern zu veranlassen. Das passiert allerdings, 10 Monate nach Inkrafttreten des Mechanismus, immer noch nicht, weil die Kommission warten will, bis der EuGH den Mechanismus für rechtmäßig erklärt. Und das, obwohl dieser Mechanismus von den gesetzgebenden Institutionen der EU beschlossen wurde.

Kurz gesagt: es passiert immer noch nichts. Das Europäische Parlament hat deshalb im Juli mehrheitlich beschlossen, dass eine Klage wegen Untätigkeit gegen die Kommission in die Wege geleitet wird. Die Kommission als „Hüterin der Verträge“ ist verpflichtet, konsequent und unverzüglich zu handeln, um Menschen vor rechtsstaatlichen Angriffen und Willkür zu schützen. Inkonsequentes Auftreten führt zu Missbrauch von Grauzonen und Schaffung von Präzedenzfällen, die zu Nachahmungen animieren können – siehe das Auftreten Ungarns und Polens. Jegliche Verstöße gegen Rechtsstaatlichkeit innerhalb der Europäischen Union müssen zielgerichtet geahndet werden, um eine Untergrabung dessen zu vermeiden. Es ist nicht hinnehmbar, dass Regierungen bestimmter Länder immer wieder die Grenzen des Machbaren austesten, keinerlei Sanktionen fürchten müssen und die EU als reine geldgebende Institution sehen, anstatt einer Wertegemeinschaft. Die Kommission setzt mit ihrer Hinhaltetaktik nicht nur das Leben unzähliger Menschen aufs Spiel, sie delegitimiert sich mit ihrer aktuellen Haltung auch als “Hüterin der Verträge”. Die Bezeichnung als Wertegemeinschaft darf keine Worthülse bleiben, es muss aktiv daran gearbeitet werden diese wichtige Errungenschaft zu schützen. Konsequenzen müssen sich deshalb zum einen nicht nur in Worten und Abmahnungen zeigen, sondern auch in Taten widerspiegeln: dabei müssen Regierungen, die Vertragsverletzungen wissentlich eingehen, schlussendlich die Auswirkungen ihres Handelns spüren und mit Sanktionen belegt werden. Diese Sanktionen dürfen sich dabei nicht gegen die Zivilgesellschaft richten oder demokratiefördernde Projekte bedrohen. Dies wäre gesellschaftsschädigend und nicht zielführend. Die Änderung der EU-Verträge wäre ein bedeutender Schritt, denn die letzte Vertragsänderung ist bereits 14 Jahre her und nicht nur in der Frage der Rechtsstaatlichkeit längst überfällig. Die Sackgasse, in der sich die EU im Bereich der Rechtsstaatlichkeit befindet, macht aber deutlich, wie dringend wir diesen Schritt, mit neuen Sanktionsmechanismen brauchen. Dies kann auch in Form einer Beschneidung des Kohäsionsfonds (wichtiger EU-Fonds zum Ausgleich der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheit) oder Agrarfonds stattfinden, also Mitteln, mit denen sich benannte Regierungen viel Gunst auf Kosten der Europäischen Gemeinschaft erwirtschaften. Wir erwarten von der deutschen Bundesregierung, dass sie sich mit Nachdruck dafür einsetzt, dass die Konferenz zur Zukunft Europas weitergeht als Absichtsbekundungen und grundlegende Reformen zur Stärkung der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit einleitet. In diesem Kontext müssen die in Artikel 2 festgeschriebenen Grundwerte präzisiert werden, um die effektive Rechtsdurchsetzung zu gewährleisten. Eine Änderung der EU-Verträge muss enthalten, dass dem Europäischen Parlament als einzige direkt demokratisch legitimierte Institution die notwendigen Rechte und Befugnisse, wie u. a. das Initiativrecht, eingeräumt werden, um im Vorgehen gegen Rechtsstaatsverstöße eigenständig Voraussetzungen formulieren zu können, die vorsehen wann die Kommission einschreiten muss. Neben der Kommission soll auch das Parlament beschließen können, dass gegen einzelne Mitgliedsstaaten Maßnahmen zum Schutz des Haushalts der Union nach dem Rechtsstaatsmechanismus ergriffen werden können. Die Vertreter*innen der EU-Bürger*innen sollten auch als Hüter*innen der EU-Verträge handeln können! Das Einstimmigkeitsprinzip soll bei der Feststellung schwerwiegender und anhaltender Verletzung der Grundwerte der Union (Art.7-Verfahren) keine Anwendung mehr finden und durch Mehrheitsentscheidungen, wie bspw. dem Prinzip der doppelten Mehrheit oder durch ähnliche Konzepte, die eine Sperrminorität autoritärer Demokratien verhindern, ausgetauscht werden.

Außerdem sollen zivilgesellschaftliche Organisationen ein Verbandsklagerecht erhalten, um ihnen Klagen gegen die Kommission wegen Untätigkeit zu ermöglichen. Solche Klagen können auch gegen das Parlament angestrengt werden, wenn es sein Vorschlagsrecht zur Feststellung der Gefahr einer Verletzung nicht ausreichend wahrnimmt. Die Bundesregierung soll, wenn die EU-Kommission bzw. das Parlament bei offensichtlichen Verstößen einzelner Mitgliedsstaaten gegen das Unionsrecht untätig bleiben, alle ihr derzeit rechtlich zur Verfügung stehenden Mittel zur Einhaltung der EU-Verträge in Betracht ziehen und sich für ihre konsequente Anwendung einsetzen.

Deutschland und die EU sollen vermehrt mit Geldmitteln zivilgesellschaftliche Organisationen unterstützen, die sich gegen rechtsautoritäre Regime innerhalb der Union stellen und die sich für politische Bildung im Bereich der Rechtsstaatlichkeit und der EU-Grundwerte einsetzen. Bis zur Änderung der EU-Verträge fordern wir von den sozialistischen und sozialdemokratischen Mitgliedern in den europäischen Institutionen, insbesondere von den Staats- und Regierungschefs im Europäischen Rat, sich stärker für die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit einzusetzen und in den Institutionen den politischen Druck zu erhöhen. Besonders an unsere Schwesterparteien innerhalb der SPE stellen wir den klaren Anspruch, die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit innerhalb der EU und ihrer jeweiligen Mitgliedsstaaten zu verteidigen. Denn auch in unserer Parteienfamilie gibt es an einigen Stellen noch entsprechenden Nachholbedarf. Als Jusos wollen wir die Kontakte zu den Jugendorganisationen unserer Schwesterparteien stärken und diese beim nachhaltigen Aufbau einer an den EU-Grundwerten orientierten politischen Kraft zu unterstützen, insbesondere dort, wo rechtskonservative Kräfte ihre Macht durch den Abbau der Rechtsstaatlichkeit zementieren.