Antrag I02-Neu: I02 Bevölkerungsschutz - Katastrophe ohne
Schutz (NEUFASSUNG)
Im März 2020 begann die größte globale Gesundheitskrise seit Jahrzehnten. In der
Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 ereignete sich eine der größten Naturkatastrophen
des Jahrhunderts in Deutschland. Der 24. Februar 2022 läutete die Zeitwende für den
Frieden in Europa ein. Wie lange die Folgen dieser Ereignisse andauern, ist ungewiss.
Sie prägen uns als Gesellschaft und hinterlassen bei den Betroffenen und Opfern tiefe
Spuren. Fälle derartig schwerwiegender Krisen, Katastrophen und Angriffe können
wieder eintreten. Wir müssen uns der Frage stellen, ob wir auf ähnliche Ereignisse in
der Zukunft gewappnet sind und ob wir aus Fehlern der vergangenen Krisen gelernt
haben.
Aktuell ist die Antwort vermutlich: Wir sind nicht ausreichend gewappnet. Wir haben
nicht genug aus vergangenen Fehlern gelernt.
Zur Begriffsklärung: Zivilschutz ist nach dem humanitären Völkerrecht der Schutz der
Zivilbevölkerung vor den unmittelbaren Auswirkungen kriegerischer Handlungen. Er ist
in Deutschland historisch eng mit dem Katastrophenschutz, also der Abwehr und
Bewältigung von natur- oder menschengemachten Katastrophen verknüpft. Beides zusammen
fällt unter den Oberbegriff Bevölkerungsschutz.
Die Abgrenzung dieser Begriffe ist insoweit relevant, als dass Katastrophenschutz
Ländersache ist, während Zivilschutz in die Bundeszuständigkeit fällt. Nachdem sich
beide Aufgabenbereiche aber nicht wirklich trennen lassen, ist der Zivilschutz in
Deutschland als „erweiterter Katastrophenschutz“ organisiert. Das bedeutet in der
Theorie, dass die Länder einen Grundstock an Katastrophenschutzfähigkeiten stellen
müssen, die dem Bund im Verteidigungsfall zur Verfügung stehen, und welche der Bund
durch eigene, spezielle Fähigkeiten ergänzt.
Das aktuelle System im Bevölkerungsschutz ist in den letzten 30 Jahren uneinheitlich
gewachsen und geschrumpft. Der Bund zog sich in den 90ern aus dem größten Teil seiner
bisherigen Aufgaben zurück, einheitliche Strukturen zerbrachen und bewährte
Führungsstrukturen lösten sich auf. In den ostdeutschen Ländern konnten sich die
darauffolgenden Katastrophenschutzstrukturen nie so etablieren wie in den
westdeutschen Ländern. In diesem Zusammenhang endete auch die Finanzierung des
vormals flächendeckende Sirenennetzes. Die Finanzierung obliegt seitdem den Kommunen,
die das Netz entweder zur Feuerwehralarmierung weiter nutzen oder sogar es
stilllegten und deinstallierten.
Die Länder und Kommunen nahmen damit de facto die gesamte Aufgabe des
Bevölkerungsschutzes im Katastrophenschutz wahr. Die Länder bauten größtenteils nach
eigenem Ermessen neue Strukturen auf und gliederten den Katastrophenschutz in die
verschiedenen Katastrophenschutzbehörden, welche sie mit Koordinierungsaufträgen
versahen. So entstand ein ungleiches Mosaik aus Zuständigkeiten und Strukturen. In
der Regel sind bei Einsätzen die Kreise als untere Katastrophenschutzbehörden
zuständig. Sie koordinieren alle Arten von Einsätzen, von kleinen Bombenfunden, über
Cyberangriffe auf kritische Infrastruktur, bis zum Starkregenereignis mit
überregionalen Überflutungen und Großexplosionen in Chemiewerken. Nur das THW
untersteht dem BMI als Zivilschutzorganisation, ist aber mitsamt seiner
Sonderaufgaben mittlerweile auf Katastrophenschutz und Gefahrenabwehr ausgerichtet.
Das THW wird dabei aus dem Bundeshaushalt finanziert.
Der Bund richtete als Reaktion auf die Anschläge auf das World Trade Center am 11.
September 2011 mit dem Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe eine
neue Behörde ein. Der Bund schlug eine Neueinteilung der Zuständigkeiten zwischen dem
Katastrophenschutz der Länder und dem Zivilschutz des Bundes vor, dies scheiterte
jedoch am Veto der Länder. Stattdessen wurde das Gemeinsame Melde- und Lagezentrum
(GMLZ) geschaffen, das zwar länderübergreifende Hilfen koordinieren kann, aber auf
Amtshilfeersuchen und Marschbefehle der jeweiligen Länder angewiesen ist. Zudem schuf
der Bund mit den Medizinischen Task Forces (MTF) 61 bundesweit genormte
Einsatzeinheiten im Sanitätsdienst, die allerdings auch 20 Jahre nach ihrer Gründung
noch immer nicht alle vorgesehenen Fahrzeuge, Ausbildungsmodule oder Materialien
haben. Um die entsprechenden Systeme überhaupt nur zu entwerfen, geschweige denn in
Serie zu bauen, wurden nie genügend Haushaltsmittel eingestellt.. Ein ähnliches Los
scheint der Betreuungsreserve des Bundes bevorzustehen, die erst 2018 konzipiert
wurde. Sie soll über die Länder organisiert werden und die Unterbringung, Versorgung
und Registrierung größerer Menschenmengen ermöglichen.
Zuletzt verabschiedete der Bund im Jahr 2016 eine „Konzeption Zivile Verteidigung“,
in der die Bundesregierung erstmals Bedrohungsszenarien und Handlungsoptionen
identifiziert und Handlungsfelder benennt. Auch die Haushalte von BBK und THW wachsen
seit Jahren, allerdings speziell beim BBK auf sehr niedrigem Niveau und drohen sogar
wieder zu fallen.
Sowohl Bund als auch die Kommunen und Länder wollen den Bevölkerungsschutz stärken,
sehen aber die Zuständigkeiten bei den jeweils anderen. Die Länder fordern ein
stärkeres finanzielles Engagement des Bundes, weigern sich aber von der starren
Trennung zwischen Katastrophen- und Zivilschutz Abstand zu nehmen. Der Bund muss
seine Aufgabe als koordinierende und übergeordnete Ebene wahrnehmen können, dafür
muss ihm das juristische Werkzeug an die Hand gegeben werden. Eine rechtliche Prüfung
zur Koordinationsrolle des Bundes bei Großschadensereignissen, auch unterhalb der
Zivilschutzzuordnung, ist nötig. Während die Länder von den Kommunen im Bereich
Brandschutz und luftgestützte Waldbrandbekämpfung von den Kommunen Investitionen
erwarten, fordern sie vom Bund massive Aufstockung des Zivilschutzetats, stellen sich
eigenen Reformen von mehr als zwanzig Jahre alten Landeskatastrophenschutzgesetzen
quer.
Die Corona-Pandemie, die Flut an Ahr und Erft und der Invasionskrieg auf die Ukraine
legten die Schwächen im System deutlich offen. So blieb das BBK bei der Bekämpfung
der Pandemie komplett außen vor, stattdessen verloren sich Bund und Länder oftmals in
Details, ohne Rücksicht auf Wissenschaftlichkeit oder Durchsetzbarkeit.
Es fehlt weiterhin an einem sinnvollen Konzept, wie die Führungslücke zwischen dem
BBK als oberer und den Kreisen als unterer Zivilschutzbehörde geschlossen werden
kann.
Die Flutkatastrophe im Sommer 2021 im Ahrtal und an der Erft hat den
Katastrophenschutz in Deutschland an seine Grenzen gebracht. Mehr als 5500
Einsatzkräfte, angereist aus ganz Deutschland, waren am Bereitstellungsraum
Nürburgring stationiert, doch wurden kaum eingesetzt. Die Gründe dafür sind
mannigfaltig, von nicht funktionierendem Funk und mangelnder Kommunikation der
Einsatzleitung mit den Zügen, über den Haufen geworfene Strukturen, schlechte
Dokumentation am Bereitstellungsraum. Durch Ausfall von Digitalfunk und Mobilfunknetz
war es unmöglich, mit deinen eigenen Einsatzkräften vor Ort und den Bürger*innen zu
kommunizieren, sie zu warnen und den Einsatz zu koordinieren. Der Einsatz im Ahrtal
hat gezeigt, wie der Föderalismus und fehlende gemeinsame Übungen die Arbeit des
Katastrophenschutzes hemmen.
Katastrophenschutz-Apps für die Zivilbevölkerung sind vielfältig, die bekannteren
unter ihnen sind KatWarn, NINA, Warnwetter, Biwapp und Meine Pegel. Das große Angebot
auf dem Markt sorgt für unterschiedliche Informationen von unterschiedlichen Stellen
und sind sowohl in der Qualität als auch in der Vermittlung von Dringlichkeit oft
ungenügend.
Warnungen sind nur mit einem internetfähigen Gerät möglich, in Katastrophengebieten
also oft gar nicht mehr, ist einmal der Internetempfang weg. Warnungen per
Cellbroadcast, also Warnungen per Pushup-Meldung auf jedes Mobiltelefon, erreichen
mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die ältere Bevölkerung und werden, ob einer anderen
Vermittlungsart, ernster genommen. Zudem kann Cellbroadcast gezielt an Telefone
innerhalb eines Funknetzes verschickt werden und ist nicht auf vom Nutzer festgelegte
Standorte begrenzt.
Der Warntag 2020 hat aufgezeigt, dass zahlreiche Sirenen in Deutschland nicht
funktionsfähig oder gar nicht vorhanden sind. Auch gab es bei der Durchführung des
Warntags erhebliche Kommunikations- und Abstimmungslücken zwischen dem Bund und den
Ländern, ein Symptom der großen Problematik. Zudem werden Sirenen von der
Zivilbevölkerung oft falsch eingeschätzt, da sie in ländlichen Strukturen primär zur
Alarmierung der Feuerwehr genutzt werden. Von dieser Zivilbevölkerung kann nicht
erwartet werden, unterschiedliche Frequenzen und Töne zu erkennen und nur einige
davon als tatsächliche Warnung vor Katastrophen wahrzunehmen. Dieser Umstand hat im
Ahrtal Menschenleben gekostet.
Das BOS-Digitalfunknetz, über das im Bevölkerungsschutz bundesweit einheitlich
kommuniziert wird, war im Einsatz im Ahrtal durch zerstörte Infrastruktur nicht
funktionsfähig und verunmöglichte eine Kommunikation zwischen Einsatzleitung und den
Teams im Katastrophengebiet. Die Schaffung sogenannter mobiler Basisstationen, auch
Repeater-Vermittlungsstellen genannt, die mithilfe funkausgestatteter Fahrzeuge
defekte, fest verbaute Basisstationen temporär ersetzen könnten, wurde nicht genutzt.
Die Möglichkeit solcher Vermittlungsstellen war den Einsatzkräften vor Ort
größtenteils nicht bekannt, da sie in den standardisierten Funklehrgängen nicht
beigebracht wird.
Obwohl das BOS Funknetz bundeseinheitlich ist, existieren Standards für Funklehrgänge
nur landesintern. Dadurch sind auch die Funkberechtigungsprüfungen nur im jeweils
eigenen Land gültig und nicht bundeseinheitlich standardisiert. Auch ist der
Funkrufnamenkatalog bundesweit nicht einheitlich, wodurch es an länderübergreifenden
Standorten durchaus zu Dopplungen innerhalb der Funkrufnamen kommt.
Die strikte Trennung von Zivil- und Katastrophenschutz in Bundes- und
Landeszuständigkeit bringt fehlende organisationsübergreifende Übungen mit sich. Die
Zusammenarbeit von weißen Einheiten, Wasserschutz und Feuerwehren mit dem THW und der
Bundeswehr kann nicht funktionieren, wenn die Einheiten vor dem Katastrophenfall
nicht eingespielt sind und nicht wissen, welche Ausrüstung welche Einheit mitbringt.
Vielmehr müssen Einsatzabläufe klar strukturiert sein. Für den Katastrophenschutz
gibt es, etwa im Gegensatz zu Brandschutzbedarfsplänen für die Feuerwehren, keine
verpflichtend Planungen zu Schadenspotentialen und Antworten darauf. Hinsichtlich der
Bundeswehr soll weiterhin gelten, dass diese im Inland nur in rechtlich bestimmten
Ausnahmefällen zum Einsatz kommen darf.
Regelungen wie solche über Kolonnengrößen gibt es, sie müssen aber auch im
Einsatzfall länderübergreifend beibehalten und nicht durch spontane Eingebungen
überworfen werden. Hierfür sind organisations- und länderübergreifende Übungen und
Fortbildungen zu Großeinsätzen für Führungskräfte nötig.
Jedes Bundesland, teilweise sogar jeder Landkreis, hat eigene digitale
Erfassungssysteme für Koordinationsstellen und Bereitstellungsräume im Einsatzfall.
Weil bei länderübergreifenden Einsätzen nicht alle Einheiten auf das gleiche System
geschult sind, wich man im Einsatzgebiet Ahrtal auf MS Excel aus. Die Einsatzleitung
wusste zwischenzeitlich nicht, welches Fahrzeug in welchem Einsatzgebiet war und erst
recht nicht, welches Team wie lang im Einsatz war. Dies ist im Katastrophengebiet
gefährlich für Einsatzkräfte – ein Unfall wäre in einem Gebiet ohne Funknetz nicht
aufgefallen. Durch mangelnde Dokumentation waren RTW-Besatzungen länger als 24 Stunden ohne Versorgung im Schadensgebiet im Dienst.
Die personelle Situation bei vielen Hilfsorganisationen ist schwierig und es fehlt
abseits von THW und Feuerwehr an einer Freistellungsregelung für Einsätze und
Ausbildungen unterhalb des Katastrophenfalls. Insbesondere trifft dies den
ostdeutschen Raum, denn hier konnten sich die auf Ehrenamt und Engagement beruhenden
Strukturen nie in der Breite etablieren. Die ehrenamtlichen Strukturen im Westen sind
nach wie vor durch zahlreiche ehemalige Wehrersatzdienstleistende geprägt, die es in
den ostdeutschen Ländern nur in sehr viel geringerer Zahl gab. Um diese Situation zu
überwinden und Einsätze auf möglichst viele Schultern zu verteilen, muss das Ehrenamt
im Bereich des Bevölkerungsschutzes attraktiver werden.
Die gesetzlichen Regelungen zur Freistellung von ehrenamtlichen Einsatzkräften im
Katastrophenschutz reichen nicht aus. Ehrenamtliche sind manchmal über Tage und
Wochen im Einsatz, diese Ausfälle sind für zahlreiche Unternehmen unattraktiv, trotz
finanzieller Entschädigung. Arbeitgeber*innen üben, trotz ihrer Verpflichtung der
Freistellung der Arbeitnehmer*innen, Druck auf diese aus, welche als Konsequenz
Abstand vom Ehrenamt nehmen. Dies umfasst sowohl staatliche Institutionen wie
Schulen, die keinen finanziellen Ersatz für den Ausfall einer*s Angestellten erhalten
und den Personalmangel durch Personalausfall nicht dulden wollen, als auch private
Unternehmen, denen kein Anreiz zur Unterstützung der Arbeitnehmer*innen geboten wird.
Der Katastrophenschutz darf besonders im Einsatzfall nicht als Freizeitaktivität
betrachtet werden, sondern muss als „nebenberufliche Tätigkeit“ anerkannt werden. Um
zu vermeiden, dass immerzu das gleiche ehrenamtliche Personal strapaziert wird, muss
der Katastrophenschutz ausgebaut und mehr Personal gewonnen werden, indem seitens der
Gesetzgebenden die Attraktivität für ehrenamtliches Engagement vergrößert wird.
Insgesamt ergibt sich mit Blick auf den deutschen Bevölkerungsschutz das Bild von
schlechten Abstimmungen zwischen den Ländern und zwischen Ländern und Bund. Eine
gemeinsame Reform muss durch die Innenministerien und das Bundesinnenministerium
initiiert und schnell angestrebt werden. Ein weiteres Einsatzchaos wie jenes im
Ahrtal darf sich nicht wiederholen, der deutsche Bevölkerungsschutz muss stabil,
verlässlich und krisenfest werden!
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