Antrag INI03: Freiwilligendienste stärken - Nein zum Pflichtjahr
und Ja zu mehr Dienststellen und einer Mindestaufwandsentschädigung
Begründung des Initiativcharakters
Die Debatte um den Pflichtdienst hat mit dem Beschluss des CDU-Parteitags im
September neue Fahrt aufgenommen. Statt alte Ideen wie die eines Pflichtdienstes aus
der Mottenkiste zu holen, sollten wir als SPD uns auf die Seite der jungen Menschen
stellen, ihnen zu hören und ihnen ermöglichen, die Erfahrungen zu sammeln, die sie
sammeln möchten. Denn gesellschaftlicher Zusammenhalt wird durch Respekt, Anerkennung
und Solidarität gestärkt und nicht durch Zwang. Ein von der AG für bürgerschaftliches
Engagement der SPD Bundestagsfraktion Ende September initiierter Austausch mit
Freiwilligen und Vertreter*innen der Trägerorganisationen ergab, dass sich alle darin
einig sind, dass es einer Verbesserung der aktuellen Freiwilligendienste bedarf und
dass ein Pflichtdienst für die Trägerorganisationen gar nicht zu stemmen wäre.
Unabhängig von der Debatte um den Pflichtdienst ergab der Austausch, dass alle
Trägerorganisationen angesichts der Inflation nicht wissen, wie sie das aktuelle
Angebot aufrechterhalten sollen. Waren die Aufwandsentschädigungen schon bisher meist
viel zu niedrig, so sind sie es jetzt angesichts der explodierenden Kosten für
Energie, Wohnraum und Nahrungsmittel erst recht. Deshalb dürfen die Freiwilligen in
dieser Krise nicht wieder vergessen werden, sondern brauchen jetzt unsere
Aufmerksamkeit!
Zur Stärkung der Solidargemeinschaft, des bürgerschaftlichen Engagements und nicht
zuletzt der Demokratie braucht es keinen Zwang, sondern vielmehr Anreize und gerechte
Bedingungen. Bundesweit engagieren sich jährlich tausende, hauptsächlich junge
Menschen in Freiwilligendiensten wie dem FSJ, dem FÖJ oder dem BFD. Doch ihre
Interessen finden kaum Gehör. Stattdessen wird eine Debatte über ein Pflichtjahr
geführt, die sowohl an der Realität der Freiwilligen als auch an der der vielen
Trägerorganisationen vorbei geht.
Wieso eine Dienstpflicht junges Engagement nicht fördert
Die Dienstpflicht soll, so die Befürworter*innen den sozialen Zusammenhalt stärken,
indem sie junge Menschen dazu bringt, sich mehr für ihre Mitmenschen zu engagieren
und einzusetzen. Dabei ist diese Überlegung aus verschiedenen Gründen falsch. Erstens
engagieren sich zahlreiche junge Menschen neben Schule, Studium und Ausbildung oder
absolvieren ein freiwilliges Jahr nach ihrer Schulzeit - und das, obwohl das
Engagement junger Menschen an vielen Stellen eher gebremst als gefördert wird. Der
negative Blick auf die Jugend wird diesem vielseitigen Engagement nicht gerecht.
Zweitens ist nicht ersichtlich, wie eine Dienstpflicht bei denjenigen, die aktuell
nicht an sozialem Engagement interessiert sind, zu einem Sinneswandel führen soll.
Zwang überzeugt nicht. Im Gegenteil, Menschen, die sich zu Tätigkeiten gezwungen
fühlen, womöglich sogar von ihren eigentlichen Interessen abgehalten fühlen, werden
gesellschaftlichen Einsatz danach vor allem als Last auffassen. Und drittens sind
mögliche Tendenzen zur gesellschaftlichen Polarisierung nicht auf eine mangelnde
soziale Ausrichtung der Jugend zurückzuführen. Der Blick auf Gruppen, die Hass und
Hetze in der Gesellschaft vorantreiben, zeigt etwas ganz anderes: Querdenker*innen,
Pegida, Reichsbürger*innen oder AfD-Anhänger*innen, um nur einige Beispiele zu
nennen, zeichnen sich alle durch ein vergleichsweise hohes Durchschnittsalter aus.
Viele der daran Beteiligten haben entweder den Wehr- oder Zivildienst absolviert. Vor
Radikalisierung und Hass auf Andersdenkende hat es sie nicht bewahrt. Gleichzeitig
zeigen Studien wie die Mitte-Studie der FES, dass Jugendliche insgesamt toleranter
und weltoffener sind. Der Lösungsvorschlag “Pflichtdienst” kann also schon deshalb
nicht erfolgreich sein, weil er an den realen Problemen vorbeigeht.
Ursache und Symptome nicht vertauschen: Eine Dienstpflicht hilft den
Gesundheitsberufen nicht!
Aktuell sind es über 200.000 und bis zum Jahr 2030 sogar circa 500.000 Pfleger*innen,
die in Deutschland im Rahmen des Pflegenotstands fehlen und fehlen werden. Darüber
hinaus erwägen sogar noch zusätzlich knapp 40% der Pflegekräfte ihren Beruf zu
verlassen. Weiterhin ist zu beachten, dass das FSJ auf keinen Fall dazu geeignet sein
kann und darf, dem Personalmangel in sozialen Berufen entgegenzuwirken. Diesem wird
man nur gerecht, wenn man das Problem an der Wurzel packt und endlich verbesserte
Arbeitsbedingungen sowie eine höhere Entlohnung schafft. Aktuell ist allerdings das
Gegenteil der Fall, die FSJler werden als billige Arbeitskräfte benutzt. Bei der
Vergabe von FSJ-Plätzen muss darauf geachtet werden, dass genau das nicht passiert
und dass das FSJ nicht zur Umgehung langfristiger, arbeitsrechtlich abgesicherter und
vollumfänglich sozialversicherungspflichtiger Stellen dient. Konkret heißt das mehr
Bezahlung, weniger Zeitdruck, bessere Vereinbarkeit mit der Familie, flexiblere
Arbeitszeiten, eine bessere Mitbestimmung und eben auch mehr Personal, damit das
Gefühl vieler Pflegekräfte den vielen Patient*innen nicht mehr gerecht werden zu
können, endlich endet. Denn es können sich 48% der Pflegeberufsausteiger*innen
vorstellen, bei den verbesserten Arbeitsbedingungen ihren erlernten Beruf wieder
auszuüben.
Wir fordern die SPD deshalb auf, sich gegen einen Pflichtdienst und stattdessen für
eine Stärkung der Freiwilligendienste und eine tatsächliche Verbesserung der
Situation der Freiwilligen auszusprechen und einzusetzen.
Dies beinhaltet:
Mehr Freiwilligendienststellen
Aktuell gibt es jährlich bei weitem mehr Bewerber*innen als Plätze für einen
Freiwilligendienst. Dies zeigt, dass es nicht am Engagement der jungen Menschen
fehlt, sondern an einem zufriedenstellenden Angebot und einer entsprechenden
Ausstattung der Trägerorganisationen. Wir fordern, dass ausreichend
Freiwilligendienststellen geschaffen und finanziert werden, damit jede*r, der/die
einen Freiwilligendienst absolvieren möchte, die Möglichkeit dazu hat. Die Knappheit
der Plätze und die geringe finanzielle Ausstattung der Trägerorganisationen führt
insbesondere dazu, dass vergleichsweise immer noch wenige Menschen aus
bildungsinstitutionsferneren Schichten angesprochen werden und hauptsächlich Menschen
mit höheren Schulabschlüssen einen Platz für einen Freiwilligendienst erhalten. Um
den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken, braucht es also zuallererst genügend Dienststellen.
Auch Freiwillige haben eine Menschenwürde: Für eine gerechte
Mindestaufwandsentschädigung
Es ist sehr undurchsichtig, was Freiwillige aktuell als Aufwandsentschädigung
erhalten. Fakt ist aber, dass es vielfach nicht zum Leben ausreicht und die
Ableistung eines Freiwilligendienstes deshalb oft nur möglich ist, wenn man weiterhin
bei den Eltern wohnen kann oder anderweitig familiäre Unterstützung hat. Eine
stichprobenartige Untersuchung der Aufwandsentschädigungen offenbart sehr große
Unterschiede je nach Träger und Bundesland (z.B. 300€ - 700€; siehe Anhang unten).
Die Unterschiede der Höhe der Aufwandsentschädigungen lassen sich in erster Linie
nicht durch die unterschiedlichen Mittel, die den Trägern zur Verfügung stehen, den
Unterschieden in den Tätigkeitsfeldern oder den Unterschieden bei den
Lebenserhaltungskosten in den unterschiedlichen Regionen Deutschlands erklären (siehe
Anhang). Deshalb müssen diese bundesweit fairer und einheitlicher gestaltet werden.
Aktuell erhalten Freiwillige für jeden Monat eine Aufwandsentschädigung, welche
Taschengeld und Geldersatzleistungen für Unterkunft und Verpflegung beinhaltet. Eine
Minderheit der Freiwilligen erhält statt der Geldersatzleistung für Unterkunft eine
Wohnung durch die Einsatzstelle gestellt. Für das Taschengeld gibt es dabei eine
gesetzlich geregelte obere Grenze. Im JFDG und BFDG steht dazu: “Angemessen ist ein
Taschengeld, wenn es 6 Prozent der in der allgemeinen Rentenversicherung geltenden
Beitragsbemessungsgrenze nicht übersteigt.” Im Jahr 2022 liegt hierbei diese Grenze
bei 423€. Diese Grenze darf aber nicht mit der Grenze für die gesamten
Aufwandsentschädigungen verwechselt werden, welche es gar nicht gibt, da keine
maximale Höhe für die Geldersatzleistungen festgelegt ist. Die geringen
Aufwandsentschädigungen der Träger*innen sind also nicht mit dieser maximalen Grenze
des Taschengeldes zu erklären.
Schon in einem Evaluationsbericht der Bundesregierung wurde die Empfehlung bezüglich
der Rahmenbedingungen der Freiwilligendienste gestellt, dass Taschengelder
angemessener und vergleichbarer gestaltet werden sollten. So heißt es: “Die Höhe des
Taschengeldes sollte entsprechend der Regelung in § 2 Nr. 4 b BFDG innerhalb der
gleichen Einrichtung, in vergleichbaren Einrichtungen sowie bei vergleichbaren
Tätigkeiten unabhängig vom Freiwilligendienstformat gleich sein.”
Aus diesem Evaluationsbericht geht auch hervor, dass viele Träger*innen,
Einsatzstellen und Freiwillige sich eine Erhöhung der Taschengelder wünschen. Der
Stichprobe zu Folge ist dies jedoch trotz der gestiegenen Lebenserhaltungskosten
nicht passiert.
Darum muss der Gesetzgeber aktiv werden. Freiwillige arbeiten meist Vollzeit und auch
wenn sie gesetzlich nicht als Beschäftigte gelten, müssen ihre Rechte und
insbesondere die Menschenwürde geschützt werden. Insbesondere Kinder aus weniger
wohlhabenden Familien haben kaum eine Möglichkeit, das FSJ wahrzunehmen. Denn von
einer so geringen Aufwandsentschädigung kann man sich kaum eine Wohnung sowie
Lebensunterhalt finanzieren. Das führt dazu, dass solche Menschen dann meist noch
einen zusätzlichen Job brauchen, um an Freiwilligendiensten teilnehmen zu können. Wir
fordern deshalb, die Aufwandsentschädigung mindestens auf die Höhe der Besoldung des
freiwilligen Wehrdienstes gesetzlich zu erhöhen. Perspektivisch fordern wir eine
Angleichung an den Mindestlohn.
Ziel sollte es in jedem Fall sein, allen jungen Menschen einen Freiwilligendienst zu
ermöglichen, egal wie deren finanzielle Situation aussieht und ob diese von ihren
Familien unterstützt werden oder nicht. Die bisherigen Aufwandsentschädigungen
reichen bei den gestiegenen Lebenshaltungskosten für viele junge Menschen nicht aus.
Neben der Sicherung der Existenzgrundlage muss die Aufwandsentschädigung auch der im
Freiwilligendienst geleisteten Arbeit Rechnung tragen.
Mitbestimmung mitdenken!
Wer möchte, dass Menschen sich langfristig in diese Gesellschaft einbringen, sollte
eine innere Motivation bei ihnen hervorrufen. Die stärkste Motivation ist die
Erfahrung, durch Engagement mitbestimmen und gestalten zu können. Dazu gehört auch,
dass Politik jünger und vielfältiger werden muss. Nicht zuletzt die Debatte über die
Dienstpflicht zeigt, dass immer noch viel zu oft über junge Menschen gesprochen wird
und viel zu selten mit ihnen. Teilhabe muss nicht verdient werden: Alle Menschen in
der Gesellschaft haben das gleiche Recht auf Mitbestimmung, unabhängig von ihrer
Leistung oder ihren vergangenen Leistungen. “Dienste” an der Allgemeinheit dürfen
nicht zur Voraussetzung für Teilhabe gemacht werden.
Zur weiteren Stärkung des Freiwilligendienste und zur Entlastung derjenigen, die an
ihnen teilnehmen, fordern wir, dass Freiwillige vom Rundfunkbeitrag befreit werden.
Darüber hinaus bekräftigen wir unsere Forderungen aus dem Beschluss J1 des
Bundeskongresses der Jusos 2020:
Selbstbestimmtes Lernen stärken: Die Freiwilligendienste sind Bildungs- und
Orientierungsorte. Die Angebote müssen an den Interessen und Bedürfnissen der
jungen Freiwilligen ausgerichtet sein. Dabei sind Teilhabe und Mitbestimmung
wesentliche Grundsätze, die sich auch bei den bis zu 25 Bildungstagen
widerspiegeln. So können die Freiwilligen Selbstwirksamkeit erfahren.
Begründung
Schon 2020 haben wir als Jusos auf dem Bundeskongress einen Beschluss zu
Jugendfreiwilligendiensten gefasst. Seitdem hat sich die Situation der Freiwilligen
aber leider nicht verbessert. Stattdessen ist nicht nur durch die CDU, sondern teils
auch durch Vertreter*innen unserer Partei eine Debatte um einen Pflichtdienst für
junge Erwachsene entstanden. Deshalb ist dieser Antrag als Erneuerung und Erweiterung
der Forderungen, die wir vor zwei Jahren angenommen haben, zu verstehen.
Unabhängig davon, dass ein Pflichtdienst viele Millionen Euro kosten würde, lehnen
wir einen solch schweren Eingriff in die Handlungsfreiheit und in das
Selbstbestimmungsrecht der jungen Erwachsenen ab. Junge Menschen engagieren sich
schon jetzt sehr vielfältig und es sollte ihnen auch in Zukunft frei stehen, selbst
zu entscheiden, wie und wann sie sich in ihrem Leben engagieren möchten. Gerade vor
dem Hintergrund der Coronapandemie, in der gerade der Alltag der jungen Menschen sehr
stark eingeschränkt wurde und ihnen viele Erfahrungen, die sämtliche Generationen vor
ihnen machen durften, unwiederbringlich genommen wurden, erscheint die Einführung
eines Pflichtdienstes widersinnig und völlig aus der Zeit gefallen.
Zumindest wäre die Einführung eines Pflichtdienstes, mit dem der gesellschaftliche
Zusammenhalt gestärkt werden soll, in unseren Augen nicht verhältnismäßig, solange
man nicht zuerst versucht hat, das bestehende System der Freiwilligendienste so
auszustatten, dass es auch tatsächlich allen unabhängig von ihrem finanziellen
Hintergrund offensteht.
Während die Debatte um einen Pflichtdienst geführt wird, finden die Interessen der
Menschen, die gerade einen Freiwilligendienst absolvieren oder Interesse daran haben,
in der Öffentlichkeit aber kaum Gehör und gehen auch in den Haushaltsverhandlungen
meist unter.
Im Gegenteil sieht es danach aus, als würden die Mittel im nächsten Haushalt weiter
gekürzt werden. Deshalb bedarf es einer größeren Aufmerksamkeit für die Situation der
Freiwilligen und einer Anerkennung des großen Engagements, das sowohl die
Freiwilligen, aber auch die vielen, meist gemeinnützigen Trägerorganisationen, trotz
der aktuell so schlechten Ausstattung aufbringen.
Zu Recht wird immer wieder herausgestellt, dass die Ableistung eines Dienstes für die
Gesellschaft oder für die Umwelt viele wertvolle Erfahrungen beschert und zum
Zusammenhalt der Gesellschaft beiträgt. Außerdem fördern Jugendfreiwilligendienste
die Bildungsfähigkeit von Jugendlichen und müssen deshalb auch im Kontext der
Bildungsgerechtigkeit gesehen werden. Wenn dem aber so ist, darf es nicht vom
Einkommen der Eltern und von sonstigen sozialen Rahmenbedingungen abhängen, ob
überhaupt, und wenn ja wo, sich ein junger Mensch die Ableistung eines
Freiwilligendienstes leisten kann. Deshalb brauchen wir neben mehr Dienststellen vor
allem eine gerechte Mindestaufwandsentschädigung für alle
Freiwilligendienstleistenden.
Anhang - Stichprobe der Höhe von Aufwandsentschädigungen
Es treten große Unterschiede bei gleichen Trägern und gleichen Tätigkeitsfeldern
(bspw. DRK) auf. Die Höhe der Aufwandsentschädigungen scheinen in unserer Stichprobe
nicht von den unterschiedlichen Lebenshaltungskosten in Stadtstaaten im Vergleich zu
Flächenländern abzuhängen. So erhalten bspw. Freiwillige bei der ijgd und AWO in
Berlin relativ wenig Aufwandsentschädigungen im Vergleich zu anderen Bundesländern.
Auch ein Ost-West Unterschied, wie wir ihn von der durchschnittlichen Kaufkraft
kennen, ist nicht eindeutig festzustellen.