Antrag D01: Aufbauprogramm Ostdeutschland
**I. Deutschland ein gespaltenes Land**
Über 30 Jahre nach der formellen Wiedervereinigung, der politischen Vereinigung der
Bundesrepublik Deutschland mit der Deutschen Demokratischen Republik, geht weiterhin
ein tiefer Riss durch Deutschland. Ob Lebenserwartung, Vermögensbildung,
Einkommenshöhe, Organisationsgrad in Parteien oder Gewerkschaften oder politisches
Wahlverhalten betreffend, die geografischen Umrisse der ehemaligen DDR lassen sich
noch heute auf unterschiedlichsten Karten in einer beunruhigenden Klarheit erkennen.
Das sogenannte Ostdeutschland und seine Bewohner\*innen, also alle diejenigen, die
dort leben und insbesondere einen relevanten Teil ihrer Sozialisation oder ihres
Erfahrungshorizontes dort erhalten haben, unterscheiden sich in vielen Kleinigkeiten
und manchen großen Fragen vom Rest der Republik.
1. Ostdeutschland: heterogenes Leben unter gemeinsamen Erfahrungen
Gleichzeitig ist Ostdeutschland aber auch kein in sich homogenes Gebiet. Es vereint
Bundesländer und Landschaften miteinander, die ihren wirtschaftlichen, aber auch
kulturellen Voraussetzungen nach unterschiedlicher nicht sein könnten. Das Leben ist
in Halle anders als in der Lausitz und folgt in Binz gänzlich anderen Regeln als in
Leipzig oder der Dresdner Neustadt.
Trotzdem verbindet alle diese Länder und Orte und die Menschen, die dort leben, im
Großen und Ganzen ein gemeinsamer Erfahrungshorizont, der Ostdeutschland trotz seiner
Vielfältigkeit im Vergleich zum Rest der Republik wieder als ein Ganzes erscheinen
lässt.
Im Gegensatz zu den zu oft wiederholten Erzählungen der friedlichen Revolution und
der bejubelten Wiedervereinigung endet der Erfahrungshorizont nicht mit der
politischen Wiedervereinigung Deutschlands am 03.10.1990, sondern beginnt dort aufs
Neue. Genauso wie durch die Geschichten des Lebens in der ehemaligen DDR vor der
Wiedervereinigung, sind heutige Ostdeutsche durch die Erfahrungen geprägt, die sie
und oft auch ihre Eltern und ihre Familie dadurch gemacht haben, dass der politischen
Wiedervereinigung keine gesellschaftliche Wiedervereinigung gefolgt ist und auf
materialistischer Ebene im Gegenteil über Jahrzehnte eine Spaltung forciert wurde.
Ausverkauf, Treuhand, Massenarbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit,
Baseballschlägerjahre und gebrochene Biografien. Hierbei handelt es sich nur um eine
Auswahl der Schlagworte, die das Leben und insbesondere das Aufwachsen in den letzten
30 Jahren in Ostdeutschland geprägt haben.
Die Lebensverhältnisse sind zwischen Ost- und Westdeutschland bis heute nicht
gleichwertig. Die Angleichung der Renten bedurfte eines jahrzehntelangen politischen
Kampfes. Ostdeutschland zählte ebenso lange als die verlängerte Werkbank Deutschlands
und die Löhne und Karrieremöglichkeiten sind bis heute nicht mit den Verhältnissen in
der alten Bundesrepublik vergleichbar. Junge Ostdeutsche haben über Jahrzehnte
bereits in der Schule gelernt, dass sie sich entscheiden müssen, ein Leben in
wirtschaftlichem Wohlstand und sozialer Sicherheit oder ein Leben dort zu führen, wo
sie aufgewachsen und verwurzelt sind.
All dies hat zu einer beispiellosen Abwanderung junger Menschen aus Ostdeutschland
geführt. Diese Abwanderung war in erster Linie eine der gut ausgebildeten und FINTA.
2. Die Spaltung ist materiell!
Oft wird behauptet, dass die Spaltung zwischen Ostdeutschland und den Bundesländern
der alten Bundesrepublik ein rein in den Köpfen der Menschen stattfindender, quasi
ideeller, Prozess sei. Dieser Behauptung stellen wir unsere Analyse der materiellen
Spaltung Deutschlands entgegen.
Vor der Wiedervereinigung gab es in der DDR nahezu keine Vermögensakkumulation.
Spareinlagen, Immobilienbesitz und privates Produktivvermögen kamen nur
marginalisiert vor, während sich die Bundesländer der alten Bundesrepublik zeitgleich
in Richtung einer Erben- und Vermögensgesellschaft entwickelten.[1]
Diese Entwicklung wurde durch die dreifache Deindustrialisierung Ostdeutschlands nach
dem Zweiten Weltkrieg verstärkt. Kurz nach Kriegsende flohen unzählige ehemals
ostdeutsche Unternehmer*innen in die westlichen Besatzungszonen und nahmen an
Produktionsmitteln, Kapital und Know-How mit, was ihnen möglich war, um dort wieder
erfolgreiche Unternehmungen zu betreiben. Was an Produktionsmitteln zurückgeblieben
war, wurde durch die Rote Armee als Reparationsleistung zu großen Teilen abgebaut,
während in der alten Bundesrepublik der Marshallplan seine Wirkungskraft entfaltete.
Letztlich fiel das, was in den folgenden 40 Jahren DDR aufgebaut wurde, der
Turboprivatisierung der 1990er Jahre zum Opfer: Betriebe und Unternehmungen, die
grundsätzlich erhaltenswert gewesen wären, wurden ohne Skrupel samt ihrer
Liegenschaften erworben und dann nach und nach in Einzelteilen liquidiert, ohne, dass
es je ein ernsthaftes Interesse am Aufbau neuer wirtschaftlicher Strukturen gab oder
sie wurden im wahrsten Sinne des Wortes verscherbelt. Dies war möglich, weil den
Treuhandmanager*innen enorme Spielräume zugestanden wurden, durch welche sie nach
eigenem Gutdünken Verkaufsentscheidungen fällen konnten. Wo es in Ostdeutschland
heute Unternehmen gibt, handelt es sich in der Regel um Klein- und Kleinstgewerbe im
Handwerk, Handel und Dienstleistungsbereich. Nur fünf Prozent des Produktivvermögens
der DDR ging in ostdeutsche Hände. Das führt vor allem zu einem Mangel an
Ausbildungsplätzen und Zukunftschancen für junge Ostdeutsche.
Die materielle Unterrepräsentation Ostdeutscher bei der Vermögensbildung hat
Auswirkungen auf verschiedene weitere Lebensbereiche. Insbesondere führt sie aber zu
einer massiven Unterrepräsentanz in gesellschaftlichen Eliten durch den verminderten
Zugang zu kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital. Nicht nur in
gesamtdeutschen Eliten sind Ostdeutsche unterrepräsentiert, sondern auch innerhalb
der Eliten in Ostdeutschland machen sie nur einen Bruchteil aus. Eine deutliche
Verbesserung der Repräsentanz ist hierbei nicht absehbar, so beträgt der Anteil von
Ostdeutschen in Elitepositionen weiterhin nur 26 % im Vergleich zur letzten Erhebung
von 2016 ist hier ein Anstieg von 3% zu vermerken. Der Anteil der Ostdeutschen in
Eliten auf dem Gebiet der neuen Bundesländer bemisst im Bereich der Politischen
Elite lediglich 52%, im Bereich der Wirtschaftselite 20 %, im Bereich der
massenmedialen Elite 20 %, im Bereich der wissenschaftlichen Elite 17 % und im
Bereich der judikativen Elite bedauerliche 4,5 %.[3] Hierbei bleibt zu vermerken,
dass es in einigen dieser Kategorien sogar Rückgänge bei der Repräsentanz zum
Erhebungszeitraum 2015/2016 zu verzeichnen gibt. Dies führt nicht nur dazu, dass sich nach Zahlen des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung 64
% der Ostdeutschen unterrepräsentiert fühlten und hiervon 64,9 % angaben, dass sie
sich deswegen als Bürger*innen zweiter Klasse fühlten[4], sondern auch dazu, dass im
Rahmen politischer Entscheidungsprozesse der jüngeren Vergangenheit die Erfüllung
gesamtgesellschaftlicher Aufgaben und die damit einhergehenden Kosten auf
Ostdeutschland abgewälzt wurden. Neben der billigen Bereitstellung von
Dienstleistungen, Rohstoffen und Arbeitskraft sind die aktuell anfallenden
Netztentgelte eines der jüngeren Beispiele hierfür. Die Verbraucher*innen in den
ostdeutschen Bundesländern, welche vornehmlich als Erzeugungs- und
Transferbundesländer fungieren, haben hier einen überproportionalen Teil der
gesamtgesellschaftlichen Kosten der Energiewende zu tragen.
Letztlich führt der Mangel an privater Vermögensakkumulation auch zu direkten
politischen Konsequenzen. Da viele Länder- und Kommunalsteuern direkt oder indirekt
vermögensbezogen sind, wirkt sich dieser Mangel direkt auf die zur Verfügung
stehenden öffentlichen Mittel aus. Es kommt zu einer Wechselwirkung aus fehlenden
öffentlichen Ausgaben, die wiederum zu fehlenden Ansiedlungen führen.
3. Wir brauchen das Aufbauprogramm Ost jetzt!
Um die oben beschriebenen Mechanismen zu durchbrechen und der politischen
Wiedervereinigung auch die gesellschaftliche und ökonomische Vereinigung folgen zu
lassen und insbesondere, um zu verhindern, dass es weitere Wendeverlier*innen in
dritter oder vierter Generation gibt, fordern wir Jusos ein Aufbauprogramm Ost auf
Grundlage der Säulen Umverteilung, Daseinsvorsorge und Reindustrialisierung
II. Umverteilung: Von Oben nach Unten!
Erste Voraussetzung für den Aufbau Ost ist die Schaffung einer positiven
Finanzsituation sowohl im Bereich privater Vermögensbildung, welcher sich auch
mittelbar auf die öffentlichen Haushalte auswirkt, als auch direkt im Bereich der
öffentlichen Finanzierung.
1. Reichtum für Alle
Als mögliches Mittel einer effektiven und zielgerichteten Umverteilungspolitik wird
in der politischen Linken seit einiger Zeit das Instrument eines sogenannten
Grunderbes diskutiert. Hierbei handelt es sich um die Idee, dass jeder Mensch zu
einem bestimmten Punkt in seinem Leben, z.B. am 18. Geburtstag, eine feste
finanzielle Summe erhält. Die Finanzierung soll in der Regel über eine progressive
Erbschaftsbesteuerung erfolgen, über welche auch Mitnahmeeffekte bereits
privilegierter Gruppen verhindert werden. Dieses Grunderbe soll ein zusätzliches
Instrument sein. Für uns Jusos ist klar, dass durch dieses nicht alle
gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten gelöst und globale Ungerechtigkeiten überhaupt
nicht adressiert werden.
Trotzdem betrachten wir Jusos die sich intensivierende Debatte um das Grunderbe mit
Wohlwollen. Deswegen werden wir uns auf den Weg machen, bis zum Bundeskongress 2023
ein umfangreiches Grunderbekonzept diskutieren. Beim Bundeskongress werden wir dann
einen Beschluss zu diesem Thema fassen. Die hierfür notwendige Debatte und Klärung
noch offener Fragestellungen soll sowohl auf Ebene der Landesverbände und Bezirke als
auch auf Ebene des Bundesverbandes stattfinden. Der Bundesvorstand wird hierfür
beauftragt, einen geeigneten institutionalisierten Rahmen für den Austausch zwischen
den Landesverbänden und Bezirken, zum Beispiel im Rahmen eines zusätzlichen
Kurzprojektes, zu organisieren.
Deshalb wollen wir mit einem “Grunderbe” als Instrument zur Reduzierung dieser
Ungleichheit gegensteuern. Unser Konzept sieht vor, dass jungen Menschen mit dem
Erreichen des 18. Lebensjahres 60.000 Euro ausgezahlt werden.
Die Finanzierung erfolgt über eine Reform der Erbschaftsteuer. Damit wollen wir eine
Umverteilung des Erbes in der Gesellschaft erreichen. Das bedeutet auch, dass wir
eine Reform der Freibeträge anvisieren, um Mitnahmeeffekte bereits privilegierter
Gruppen zu verhindern. Somit wird das Grunderbe, als gesellschaftliches Erbe, auf das
familiäre aufgerechnet und dementsprechend versteuert.
Hierbei handelt es sich um ein zusätzliches Instrument, welches die
gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten nicht im Alleingang beseitigen wird, vielmehr
benötigt es noch zahlreiche andere Maßnahmen.
2. Eine neue Verteilung von Einnahmen und Lasten!
Um langfristig die finanzielle Situation des ländlichen Raums zu sichern, fordern wir
eine Neustrukturierung der vertikalen Steuerverteilung. Das aktuelle
Verteilungssystem bevorzugt insbesondere große Ballungszentren und bildet
insbesondere den Beitrag ostdeutscher Bundesländer zum Gesamterfolg der
Volkswirtschaft nicht ab. Wir wollen uns zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht auf
konkrete Einzelmaßnahmen festlegen. Von der Zuweisung größerer Anteile der
Umsatzsteuer an die Kommunen und Länder, über eine Erweiterung kommunaler
Besteuerungskompetenzen bis hin zu generellen Zuweisungen einzelner Steuern an die
Länder und so mittelbar an die Kommunen, erscheint hier vieles diskussionswürdig.
Klar ist jedoch: Am Ende muss eine großangelegte Steuerreform stehen, die neben der
Umverteilung in der Bevölkerung von oben nach unten auch die vertikale Verteilung der
Steuereinnahmen neu regelt, sodass der ländliche - insbesondere ostdeutsche - Raum
profitiert.
Weiterhin fordern wir eine konkrete und zügige Reform der Netzentgelte:
Ihre Berechnung muss an fairere Kriterien geknüpft werden. Wir fordern, dass die
regionalen Unterschiede im Rahmen einer sogenannten “pauschalen Wälzung”
energiewendebedingter Mehrkosten berücksichtigt werden. Hierfür soll der Anteil der
Erlösobergrenze, der auf die Mehrkosten aus dem Ausbau der erneuerbaren Energien
zurückzuführen ist, mit einer pauschalen Methodik abgeschätzt werden. Dabei werden
die Kosten durch eine Festlegung der Bundesnetzagentur pauschal ermittelt.
Der ermittelte Anteil wird dann aus einem Ausgleichstopf gedeckt und geht somit nicht
in die Netzentgelte dieser Verteilnetzbetreiber ein. Netzbetreiber*innen, deren
Versorgungsaufgabe und Kostenstruktur maßgeblich von der Integration erneuerbarer
Energien geprägt ist, können so einen Teil ihrer Mehrbelastungen entsprechend dem
Anteil ihrer Netzkosten bundesweit verteilen, um Verbraucher*innen in den betroffenen
Netzgebieten zu entlasten und regionale Fehlanreize zu beseitigen.
Im Vergleich zu der alternativen Kostenwälzung auf Grundlage bidirektionaler
Lastflüsse, ist der Weg einer pauschalen Kostenwälzung schneller umsetzbar, in ihren
Auswirkungen überschaubarer und besser zu steuern, so dass die Schaffung eines
konkreten und zeitnahen Lösungsweges nicht an der Komplexität des Energienetzes
scheitert.
3. Wem gehört das Land? - Eine neue Bodenpolitik
Insbesondere in der Agrarpolitik ist die zunehmende Zentralisierung der
Verfügungsmacht über Grund und Boden eine der drängendsten Verteilungsfragen in den
ostdeutschen Bundesländern. In bestimmten Gebieten erreicht der Grad an
Zentralisierung an Fläche in wenigen Händen ein historisches Hoch.
Hierbei handelt es sich nicht nur um ein reines Gerechtigkeitsproblem. Die Frage, in
wessen Händen der Grund und Boden liegt, ist eine Frage von Macht- und
Einflusssphären. Eine Konzentration von Verfügungsgewalt über Grund und Boden führt
bis heute zu enormen Möglichkeiten der Einflussnahme. Egal ob im Bereich der
Agrarwirtschaft oder im urbanen Kampf um günstigen Wohnraum, in Verbindung mit
privaten Profitinteresse führt die Konzentration von Grund und Boden immer zu einer
Abnahme gesellschaftlicher Steuerungsmöglichkeiten und zur Steigerung von
gewinnorientierten Lobbyeinflüssen. Im Konkreten leiden hierunter Bestrebungen zu
Gunsten des Allgemeinwohls wie z.B. die Durchsetzung nachhaltiger Landwirtschaft, die
Gewährleistung einer bezahlbaren Wohnraumbewirtschaftung oder Investitionen in die
Energie- und Mobilitätswende.
Es bedarf deswegen Lösungen, um die Länder und Kommunen in die Lage zu versetzen, die
Kontrolle über die Flächen zurückzugewinnen. Langfristig fordern wir die Abschaffung
des Privateigentums an Grund und Boden. Kurzfristig bedarf es Instrumente des Bundes,
um Bundesländer und Kommunen beim Rückkauf privatisierter Flächen, wie z.B. bei der
Ausübung eines kommunalen Vorkaufsrechtes, zu unterstützen, eine institutionalisierte
Förderung kleiner und mittlerer Agrargenossenschaften und gesetzlicher Regelungen zur
Ermöglichung und Vereinfachung der Vergesellschaftung oder Enteignung von Immobilien.
4. Ein Ende der Austerität jetzt!
Die Abschaffung der Schuldenbremse ist eines der zentralen Ziele zur Rückgewinnung
der vollen Handlungs- und Leitungssouveränität der öffentlichen Hand. Nur durch sie
können kurzfristig die notwendigen Investitionen getätigt werden, um die
Bundesrepublik zukunftsfähig zu machen. Diese sind für den ostdeutschen Raum von
besonderer Bedeutung: Investitionen in Infrastruktur, staatliche Handlungsfähigkeit
und Zukunftstechnologien ermöglichen hier überhaupt erst den Schritt hin zu einer
Schaffung vollumfänglicher Daseinsvorsorge und dem Ingangsetzen einer
Reindustrialisierung. Zur Finanzierung dieser Investitionen und um die ostdeutschen
Bundesländer in die Lage zu versetzen, sich wieder selber tragen zu können, fordern
wir kreditfinanzierte Sonderzuweisungen im Rahmen eines Programms “Aufbau Ost".
Soweit die Abschaffung der Schuldenbremse an den vorhandenen politischen Mehrheiten
scheitert, fordern wir die Schaffung einer Sondervermögens “Aufbau Ost” zur
Finanzierung von infrastrukturellen Maßnahmen, um die ostdeutschen Bundesländer in
die Lage zu versetzen, sich wieder selber tragen zu können.
III. Staatliche Daseinsvorsorge als Garant gleichwertiger Lebensverhältnisse!
Kaum etwas hat in den vergangenen 30 Jahren den gesellschaftlichen Zusammenhalt und
die Beständigkeit demokratischer Institutionen in den ostdeutschen Bundesländern so
beschädigt wie der stetige Abbau und Rückzug staatlicher Daseinsvorsorge. Ein
Aufbauprogramm Ost muss deshalb das Ziel haben, eine vollumfängliche Daseinsvorsorge
zu gewährleisten.
1. Stärkung kommunaler Daseinsvorsorge
Die Hauptleistung der Organisation der Daseinsvorsorge erfolgt auf kommunaler Ebene.
Hier zeigen sich die Auswirkungen der Turboprivatisierungen der 90er-Jahre besonders
deutlich. Wir fordern daher die Schaffung eines bundesweiten
Rekommunalisierungsprogrammes.
Im Zuge dieses Programmes muss es einen ordnungsrechtlichen, über das Bundesrecht
durchgesetzten Privatisierungsstop geben, der es unter Druck geratenen Kommunen
verbietet, öffentliches Eigentum der Daseinsvorsorge zu privatisieren.
Darüber hinaus brauchen wir auch weiterhin einen Altschuldenschnitt für alle
Kommunen, um deren Handlungsfähigkeit wiederherzustellen. Dieser muss auch die
Altschulden kommunaler Gesellschaften, Wohnungsunternehmen und Eigenbetriebe
erfassen.
Primäres Ziel bleibt die Rückführung privatisierter Güter der Daseinsvorsorge in
öffentliches Eigentum (Vergesellschaftung). Bund und Länder sind dafür
verantwortlich, die Kommunen in die hierfür notwendige finanzielle Lage zu versetzen.
Ferner braucht es hierfür die Koordinierung einer gezielten Erwerbspolitik auf Ebene
der Bundesländer, die durch den Bund im Rahmen eines Rekommunalisierungsfond oder
Ähnlichem finanziell unterstützt wird und in deren Zuge dann letztlich eine
Rückübertragung an die entsprechende kommunale Ebene stattfindet.
Dabei muss die Erfordernis, für eine langfristig solide Ausfinanzierung der laufenden
Kosten Sorge zu tragen, durch einen gemeinsamen Schulterschluss zwischen Bund,
Ländern und Kommunen, sichergestellt werden.
2. Bezahlbare Energieversorgung und Versorgungssicherheit
Zur Sicherung einer bezahlbaren Energieversorgung, auch in Ostdeutschland, bedarf es
eines konsequenten Umstieg auf erneuerbare Energien. Ostdeutschland kann hier für die
gesamte Republik auch aufgrund der noch vorhandenen Gestaltungsräume eine tragende
Rolle einnehmen und die bereits jetzt schon hohen Produktionskapazitäten weiter
erhöhen. Von zentraler Bedeutung ist jedoch, dass der notwendige Netzausbau zum
Transport der erzeugten Energie endlich konsequent vorangetrieben wird und dass
diejenigen, die diesen seit Jahren blockieren, in die Schranken gewiesen werden.
Darüber hinaus bedarf es einheitlicher Regeln, die eine Beteiligung der Menschen vor
Ort an den durch die Produktion erzeugten Gewinnen ermöglichen, um die Akzeptanz von
Produktionsanlagen zu verbessern.
Da bis zum vollständigen Umstieg auf erneuerbare Energien, Erdgas langfristig als
günstige Zwischentechnologie ausfällt, bedarf es staatlicher Regulierung bei der
Bildung der Energiepreise. Wir fordern deshalb einen Strom- und Gaspreisdeckel und
die Finanzierung des hierdurch entstehenden Deltas zwischen Einkaufs- und
Verkaufspreisen bei den Versorgern durch Bundesmittel, die durch eine einmalige
Vermögensabgabe und eine Besteuerung von Übergewinnen erlangt werden sollen.
Die Problematik einer stabilen Energieversorgung wird in Ostdeutschland durch die
Ausrichtung der Versorgungsinfrastruktur aktuell enorm verschärft: Während sich viele
Speicherkapazitäten in Westdeutschland befinden, sind zum Transport notwendige
Pipelines oft nur von Ost nach West nutzbar. Es bedarf deshalb eines zügigen Ausbaus
des Transportinfrastruktur. Konkretes Beispiel hierfür ist unter anderem die
Schaffung von Anlandekapazitäten für LNG in Lubmin. Von hier aus kann über die
vorhandene Infrastruktur, die Energieversorgung in Ostdeutschland entscheidend
gestützt werden.
3. Mobilität
Mobilität ist ein Grundrecht und zentraler Baustein einer ganzheitlichen und modernen
Daseinsvorsorge. Eine Schaffung gleichwertiger Lebensbedingungen ist nicht möglich
ohne einen gleichwertigen Zugang zu Mobilitätsangeboten. Diesen Anspruch im
ländlichen Raum zu erfüllen, stellt die jeweils Verantwortlichen bereits
grundsätzlich vor enorme Herausforderungen.
In der ostdeutschen Fläche potenzieren sich diese Herausforderungen: Außerhalb der
wenigen und oft weit entfernten Ballungszentren trifft eine besonders niedrige
Bevölkerungsdichte auf enorme geografische Räume. Während des Geltungszeitraumes des
9-Euro-Tickets waren diese Effekte besonders spürbar. War das 9-Euro-Ticket an den
meisten Orten ein voller Erfolg, so führte es in den Räumen der ostdeutschen Fläche
nur zu einer geringen Steigerung der Nutzung des ÖPNV über touristische Zwecke
hinaus.
Hauptgrund hierfür ist, dass viele Menschen überhaupt nicht oder nur mangelhaft an
die Infrastruktur des öffentlichen Nahverkehrs angebunden sind. Hier herrscht eine
Wechselwirkung zwischen mangelhaften Ausbaus und fehlender Bezahlbarkeit, die zu
einem stetigen Abbau von Angeboten des ÖPNV und SPNV führt: Aufgrund der schlecht
ausgebauten Infrastruktur und mangelnder Modernisierung ist die Nutzung des
öffentlichen Nahverkehrs, dort wo überhaupt möglich, oft unattraktiv. Dies führt zu
noch geringeren Fahrgastzahlen und damit zu extrem hohen Vorhaltekosten je Fahrgast.
Im derzeitigen Berechnungssystem für Ticketpreise resultiert hieraus eine stetige
Preissteigerung, die die Nutzung des ÖPNV/SPNV wiederum unattraktiver macht. Im Sinne
der Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse und im Sinne eines Rechtes auf
Mobilität bedarf es deshalb eines gleichzeitigen Ausbaus von Infrastruktur bei einer
Absenkung von Zugangsvoraussetzungen, insbesondere einer gezielten Senkung der
Preise.
Hierfür fordern wir die Reaktivierung aller in den letzten 30 Jahren stillgelegten
Schienenstrecken und den gleichzeitigen Ausbau der vorhandenen Strecken auf
mindestens Zweispurigkeit, wodurch die benötigte Takterhöhung realisiert werden kann.
Um die Räume zwischen dem vorhandenen und neu zu errichtendem Schienennetz trotz
ihrer Größe und niedrigen Bevölkerungsdichte angemessen anzubinden, braucht es eine
Förderung innovativer Rufbussysteme. Da sich der Anspruch auf Mobilität nicht auf den
Nahverkehr reduziert, fordern wir eine konsequente Anbindung ostdeutscher
Ballungszentren an den Fernverkehr, auch wenn diese im bundesdeutschen Vergleich
möglicherweise nicht auf den ersten Blick als Ballungszentren erscheinen mögen. Im
Zuge vergangener Mobilitätspakete des Bundes kam es hier teilweise zur Streichung von
Verbindungen zu Gunsten westdeutscher Ballungszentren. Um den Zugang zur Mobilität für alle zu gewährleisten, fordern wir kurzfristig bezahlbare Tickets und nachvollziehbare, einheiltliche Tariflösungen wie deutschlandweit gültige ÖPNV-Tickets. Langfristig streben wir einen kosten-, fahrscheinlosen und beitragsfinanzierten ÖNPV für alle Menschen an. Das “heilige römische Reich deutscher Tarifzonen” gehört abgeschafft!
IV. Wir wollen die grüne Reindustrialisierung!
Langfristig wird eine Schaffung gleichwertiger Lebensbedingungen in Ost und West nur
gelingen, wenn es gelingt, in Ostdeutschland eine echte Reindustrialisierung
einzuleiten. Nur durch sie kann es gelingen, das Lohnniveau nachhaltig stabil zu
halten und Zukunftsperspektiven für junge Menschen zu schaffen. Wir setzen dabei
nicht auf Technologien und Ansätze des vergangenen Jahrhunderts! Die
Reindustrialisierung in Ostdeutschland, wie wir sie fordern, basiert auf
Zukunftstechnologien und ist integraler Bestandteil der sozial-ökologischen
Transformation.
Wir stehen für die Ansiedlung innovativer, ökologischer und hochwertiger Industrie in
Ostdeutschland ein. Dies bedeutet jedoch keinen Freifahrtschein für Investor*innen!
Starke Gewerkschaften, gute Arbeitsbedingungen und hohe Löhne auf Westniveau sind für
uns die Voraussetzung jeglicher Ansiedlung. Die Zeit der “verlängerten Werkbank”
Ostdeutschland muss ein für alle mal vorbei sein!
Wir lehnen neoliberale Ansiedlungspraktiken, wie beispielsweise für bestimmte Gebiete
oder sogar für einzelne Investor*innen ausgewiesene Steuererleichterungen oder -
erlasse, ab. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass eine solche Ansiedlungspolitik
lediglich zur Abschöpfung von Mitnahmeeffekten führt. Die von uns angestrebte
Reindustrialisierung ist eine langfristige und nachhaltige.
Um dies zu gewährleisten, fordern wir eine Umstellung der GRW-Förderung
(Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsinfrastruktur") und der
übrigen Subventionspolitik des Bundes und der Länder auf das Leitziel
Dekarbonisierung.
Darüber hinaus bedarf es einer intensiveren und gezielteren Förderung von
mittelständischen und Familienunternehmen im Bereich innovativer Wirtschaftsformen
und Technologien, da diese das Rückgrat der ostdeutschen Wirtschaft bilden.
Insbesondere im Bereich der Wasserstoff- und Speichertechnologie bietet
Ostdeutschland hier die notwendigen Voraussetzungen um Zukunftsinnovationen im
Zusammenspiel mit einer gezielten Forschungspolitik des Bundes aus der Breite der
Gesellschaft zu schaffen und der gesamten Bevölkerung zugänglich zu machen. Der Bund
soll in diesem Bereich tätige kleine und mittlere Unternehmen gezielt fördern und im
Gegenzug für diese Förderung eine Abriegelung neuer Technologien von der
Nutzbarmachung für breite Bevölkerungsteile durch unnötige Patente oder übertriebenes
Gewinnstreben verhindern. Wichtige Voraussetzungen für die Ansiedlung neuer Unternehmen ist, dass es eine gute
regionale Binnennachfrage und Erwerbsmöglichkeiten für Familienangehörige der
Angestellten des Unternehmens gibt. Um dies zu gewährleisten fordern wir, dass im
Sinne eines gelungenen Strukturwandels attraktive Standorte in Ostdeutschland
gefördert werden, insbesondere bei der Schaffung neuer Behörden.
V. Ostdeutsche Identität anerkennen!
Aufgrund der materiellen Unterschiede zwischen den ostdeutschen und westdeutschen
Bundesländern und den damit im Zusammenhang stehenden unterschiedlichen Erfahrungen
und Lebensrealitäten im Bereich von Zukunftschancen und offen stehenden Möglichkeiten
hat sich in den letzten 30 Jahren in nicht unerheblichen Teilen der Bevölkerung der
ostdeutschen Bundesländer eine spezifisch ostdeutsche Identität herausgebildet, die
über die Lebenshorizonte in der ehemaligen DDR und den unmittelbaren Systemwechsel
hinausgeht und sich nunmehr auch auf Bereiche bezieht, die nicht mehr Teil der
ursprünglichen materiellen Sphäre sind.
Auch wenn das langfristige Ziel die Schaffung einer tatsächlichen gesellschaftlichen
Vereinigung durch Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse und Aufhebung
bestehender Widersprüche bleibt, ist es eine Frage der Gerechtigkeit, diese Identität
anzuerkennen.
Als Ausdruck dieser Anerkennung benennen wir Jusos eine angemessene Repräsentanz
Ostdeutscher in ostdeutschen Eliten als politisches Ziel und fordern auf Bundesebene
die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zu den Tätigkeiten
der Treuhand und der von ihr betriebenen Turboprivatisierung.
Wir fordern eine angemessene Repräsentanz ostdeutscher Perspektiven auch in der
gesamtdeutschen Öffentlichkeit. Dabei müssen insbesondere die spezifischen
Erfahrungen ostdeutscher Migrationsgeschichte und die sie tragenden Menschen
abgebildet werden.
Um dies zu erreichen, soll bei dem Beauftragten für Ostdeutschland der
Bundesregierung ein sogenannter Ostdeutschlandrat gegründet werden, der die
Heterogenität ostdeutscher Perspektiven widerspiegelt und der diesem beratend zur
Seite steht.
VI. Stärkung der Zivilgesellschaft
Auch in Zeiten rechter Hegemonien gab es immer wieder Widerstandskämpfe gegen diese.
Dies gilt es zu würdigen. Während Parteien der extremen Rechten immer wieder
Wahlerfolge auf Kommunal, Landes- und Bundesebene erzielten, bildeten sich als
Gegenreaktion Bündnisse gegen Rechts und Vereine, welche die Szene beobachten,
Aufklärungs- und Bildungsarbeit leisten oder sich in der Beratung von Opfern rechter
Gewalt engagieren. Dabei haben sie nicht nur mit diversen Angriffen aus der rechten
Szene zu kämpfen, sondern Konservative und Neoliberale wollen ihnen immer wieder die
Legitimitätsgrundlage absprechen.
Migrantisch gelesene und rassifizierte Personen in Ostdeutschland sind bis heute
besonders von der rechten Hegemonie betroffen. Für viele der als
Vertragsarbeiter*innen und Studierenden in die DDR gekommene Menschen war der Alltag
vor und nach der Wiedervereinigung von Rassismus geprägt. Für viele Menschen war die
Zeit nach 1990 zudem von Unsicherheiten geprägt, da die Grundlage für ihren Arbeits-
oder Studienaufenthalt wegbrach und wodurch sich auch ihre Perspektive angesichts
eines sich in der Auflösung befindenden Staates immer mehr verschlechterte.
Den Perspektiven von FINTA und BIPoC in Ostdeutschland wollen wir mehr Gehör
verschaffen. In dieser Hinsicht wollen wir den Erfahrungen der letzten Jahre,
insbesondere in der Zeit der sogenannten „Baseballschlägerjahre“, noch mehr Raum
gegeben. Die wichtige sowie notwendige Aufarbeitung der Geschichte der Betroffenen
rechter Gewalt, insbesondere der Gastarbeiter*innen, muss nicht nur fortgeführt,
sondern auch stärker vermitteln werden.
Mit dem Aufstieg der AfD wandelte sich das öffentliche Bild der extremen Rechten. Die
Abgrenzung von „klassischen Neonazis“ und vermeintlich bürgerlichen Konservativen
ermöglichte verstärkt das subversive Ausnutzen der Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit
und Wut über das Nichteinhalten von Versprechen und Zukunftsperspektiven. Das
Vertrauen in die Funktionalität der freiheitlichen demokratischen Grundordnung als
Partizipation nimmt ab. Dennoch stehen dem Menschen, der ersten Generation nach der
Wiedervereinigung, entgegen. Institutionalisierte Demokratiesozialisierung durch
Schulen, Landeszentralen für Politische Bildung und Jugendparlamente und Gremien
leisten bereits heute und müssen auch weiterhin einen wichtigen Beitrag zur Stärkung
Zivilgesellschaft leisten.
Deshalb fordern wir:
Eine Fortentwicklung des Bundesprogramms “Demokratie leben!” im Rahmen des neuen
Demokratiefördergesetzes und eine Aufstockung der Mittel auf mindestens 350 Millionen
Euro, von denen mindestens die Hälfte in Ostdeutschland investiert wird. Ziel der
Mittel ist das politische Ehrenamt in Jugendgremien zu fördern und die nachhaltige
und dauerhafte Arbeit von Vereinen und Inititaiven gegen Rechts institutionell
sicherzustellen, sowie sich im Aufbau befindenen Initiativen einfach und
unbürokratisch finanziell und mit Materialien zu unterstützen, dies kann z.B über
eine unkomplizierte, barrierefreie Website funktionieren.
Dass die Budgets für die ostdeutschen Landeszentralen für Politische Bildung deutlich
erhöht werden, mit dem Ziel, das bestehende Förderprogramme zu aktualisieren,
Eigenanteile abzuschaffen und Fördersummen deutlich zu erhöhen. Die Landeszentralen
sollen verstärkt Projekte in ländlichen, strukturschwachen Räumen fördern.
Regelmäßige Bildungsprojekte an Schulen zur Demokratieförderung und Arbeit gegen
Rechts
VI. Seit an Seit in eine bessere Zukunft
Wir Jusos sind der festen Überzeugung, dass die hier dargestellten Maßnahmen einen
Einstieg in die dringend notwendige Überwindung des Ost-West-Gefälles und die
Vollendung der Deutschen Einheit ermöglichen. Das Streben nach diesem Zusammenwachsen
ist immanenter Bestandteil unseres Kampfes für eine sozialistische,
antifaschistische, feministische, antirassistische und internationalistische Gesellschaft, in der jeder einzelne Mensch unabhängig von Herkunft befähigt ist, ein
freies und emanzipiertes Leben in einer solidarischen und demokratischen Gesellschaft zu führen.
Für dieses Ziel streiten wir trotz allen unterschiedlichen Erfahrungen gemeinsam,
solidarisch und Seit an Seit!