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Beschlussarchiv

P5 2023
Psychisch kranke Menschen nicht länger im Stich lassen!

Analyse:

Wir erleben eine Pandemie psychischer Erkrankungen. Immer mehr Menschen sind und werden psychisch krank und erhalten keine angemessene Unterstützung. Sowohl die Prävention psychischer Störungen als auch die Versorgung der Erkrankten ist nicht ausreichend gewährleistet.

Was ist die Problemlage?

In Deutschland leidet jeder vierte Erwachsene innerhalb eines Jahres an einer psychischen Erkrankung [1]. Über die Hälfte aller psychischen Erkrankungen entstehen dabei bereits vor dem 19. Lebensjahr [2], was Kinder und Jugendliche zu einer besonders betroffenen Gruppe macht. Jahrzehntelange Forschung hat wirksame Methoden zur Behandlung dieser Leiden hervorgebracht. Psychotherapie ist eine empirisch fundierte und wirksame Kassenleistung, deren Behandlungsmethoden eine höhere Effektivität aufweist als die vieler somatischer Erkrankungen [3].

Folgen von Nicht-Behandlung

Auch wenn Psychotherapie Geld kostet, ist der volkswirtschaftliche Nutzen weitaus höher als die Kosten. Kosten-Nutzen-Analysen ergeben auf Basis zahlreicher Faktoren, dass jeder in Psychotherapie investierte Euro einen gesamtgesellschaftlichen Nutzen von 2 bis 5 Euro ergibt [4]. Mit 42% sind psychische Erkrankungen die mit Abstand häufigste Ursache für eine Erwerbsminderungsrente und der zweithäufigste Grund für Arbeitsunfähigkeitstage. Wird jemand wegen einer psychischen Erkrankung frühberentet, ist er im Schnitt 51 Jahre alt und damit jünger als Personen, die wegen einer körperlichen Erkrankung frühberentet werden. Seit der Jahrtausendwende, sind die Fehltage wegen psychischer Erkrankungen um 239% gestiegen, während sie bei allen anderen Erkrankungsgruppen um nur 28% gestiegen sind [5]. Neben einem erhöhten Risiko für Arbeitsausfall, hat eine psychische Erkrankung weitere Folgen, sowohl für die einzelne Person wie auch für ihr Umfeld und für unser System. Für die Betroffenen erhöht sich mit jedem Tag das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Störungen des Immunsystems, Diabetes und eine Vielzahl weiterer körperlicher Erkrankungen [6]. Das Risiko für Suizid ist um das 30 bis 50-fache erhöht [7]. In der Altersgruppe der 15-

24-Jährigen ist Suizid neben Verkehrsunfällen die häufigste Todesursache [8]. Kinder psychisch kranker Eltern haben ein deutlich höheres Risiko selbst zu erkranken [9]. Werden die Leiden dieser Menschen nicht behandelt, betrifft das also nicht nur die Erkrankten selbst, sondern es betrifft uns alle.

Gemeinsamer Bundesausschuss

Tragischerweise muss jemand der in unserem Gesundheitssystem um Hilfe bittet, aktuell im Schnitt 142 Tage zwischen einem Erstgespräch und dem Beginn der eigentlichen Therapie warten [10]. Dies liegt nicht an einem Mangel an Psychotherapeut*innen, sondern daran, dass zu wenige Kassensitze vorhanden sind [11]. Ein Kassensitz ist die Berechtigung zur Abrechnung der therapeutischen Leistung mit den gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV). Damit die eigene Psychotherapie von der Kasse bezahlt wird, muss man sich also an eine*n Therapeut*in mit einem Kassensitz wenden. Festgelegt wird das Kontingent der Sitze, vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), einem Gremium in dem Vertreter*innen der Kassen und der Leistungserbringer sitzen. Die Anzahl an Kassensitzen wird vom G-BA durch die Bedarfsplanung bestimmt.

Diese Bedarfsplanung hat jedoch gravierende Mängel [12]. Sie beruht auf der Lage aus dem Jahr 1999 und unterliegt damit der Annahme, es habe sich innerhalb der letzten 20 Jahre nichts am Bedarf an psychotherapeutischer Versorgung geändert. Als "Bedarf" festgesetzt wurde nämlich die Anzahl der Psychotherapeut*innen, die damals einen Kassensitz bekamen. Das führt zu einer hohen Diskrepanz zwischen der vom G-BA errechneten Versorgungsrate und den tatsächlichen Wartezeiten. Rechnet man nach dem System der Bedarfsplanung, haben wir in Deutschland im Schnitt eine psychotherapeutische Überversorgung von 131% [13]. Das lässt sich mit einer Wartezeit von 142 Tagen nicht vereinen.

Darüber hinaus hat der Gesetzgeber keinen wirklichen Einfluss auf die Beschlüsse des G-BA. Besonders bezeichnend ist die häufig verwendete Formulierung „Das Zentralkomitee des deutschen Gesundheitssystems“. Obwohl 90% der Deutschen in der GKV versichert sind und entsprechend laut SGB V einen Anspruch auf ausreichende und bedarfsgerechte medizinische Krankenbehandlung haben, haben sie keine Kontrolle darüber, welche und wie viele Leistungen die GKVs übernehmen.

Coronapandemie und weitere Krisen - Öl ins Feuer

Die Covid-19 Pandemie hat die Lage in Deutschland als multidimensionaler Stressfaktor für die psychische Gesundheit deutlich verschlimmert. Das subjektive Gefühl von Kontrollverlust, der Wegfall sozialer Kontakte und die Bedrohung von Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten sind an der Bevölkerung nicht spurlos vorübergegangen. In Folge der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus haben sich in der deutschen Bevölkerung laut repräsentativer Umfragen vermehrt Ängste, Stress und Sorgen verbreitet. Eine aktuelle Studie an der Universität des Saarlandes hat die psychischen Auswirkungen der Krisen, wie der Pandemie, dem Ukraine-Krieg und dem Klimawandel bei Kindern und Jugendlichen untersucht [14]. Rund 54 Prozent haben bei Befragungen klinisch auffällige Angstsymptome, 41 Prozent berichteten über klinisch auffällige Depressionssymptome.

Gleichzeitig hat sich die Wartezeiten-Problematik in dieser Zeit nochmals deutlich verschärft. Waren es 2021 noch 38,3% der Praxen, bei denen Patient*innen durchschnittlich länger als sechs Monate auf den Beginn einer Psychotherapie warten mussten, so stieg die Zahl bis 2022 auf fast 50% an. Die Wartezeiten für Kinder und Jugendliche sind seit Pandemiebeginn auf durchschnittlich 25 Wochen gestiegen und haben sich somit nahezu verdoppelt [15]. Infolgedessen erhält aktuell nur jedes zehnte (!) psychisch erkrankte Kind eine antragspflichtige Psychotherapie [16].

Der Einfluss der “Klasse“

Die finanziellen Ressourcen einer Person spielen eine große Rolle bei der Entstehung und Behandlung psychischer Störungen. Zahlreiche Studien legen einen Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status und der psychischen Gesundheit nahe [17]. Das Stresslevel ist um ein Vielfaches erhöht, wenn man in ständiger Unsicherheit über die Versorgung von sich und seiner Familie lebt. Es kostet massive kognitive Ressourcen, sich andauernd über die Finanzierung des alltäglichen Lebens Gedanken machen zu müssen, sodass viel weniger Zeit bleibt, sich um protektive Faktoren, wie ein funktionierendes soziales Umfeld, ausreichend Entspannungsmöglichkeiten oder um Sport und gesunde Ernährung zu kümmern.

Entsprechend überrascht es nicht, dass Kinder und Jugendliche mit niedrigem sozioökonomischem Status mit einer 2-3 mal höheren Wahrscheinlichkeit psychisch krank werden [18].

Darüber hinaus haben psychisch erkrankte Personen mit genügend finanziellen Mitteln viel eher die Möglichkeit eine selbstfinanzierte Psychotherapie zu bezahlen. Das mangelhafte Versorgungsnetzwerk der GKV führt somit auch dazu, dass Kinder und Jugendliche, die Hilfe brauchen, vom Geldbeutel ihrer Eltern abhängig sind. Wer Hilfe benötigt und für seine Psychotherapie nicht selbst bezahlen kann, der leidet enorm - eine bittere Manifestation der Ungleichheit in unserer Gesellschaft.

Die weitreichenden Folgen für unsere Gesellschaft

Psychische Erkrankungen sind fast immer gekennzeichnet durch ein Gefühl der Machtlosigkeit. Gerade in solchen Situationen erhöht sich das Bedürfnis nach einfachen Antworten. Versäumen wir es uns den Betroffenen zuzuwenden und uns um ihr Wohlergehen zu kümmern, werden andere diesen Platz einnehmen. Es kommt nicht von ungefähr, dass selbsternannte SelfHelp-Gurus mit fragwürdiger politischer Agenda immer mehr Menschen finden, die bereit sind, sich ihnen anzuschließen und die politische Linke, Trans-Menschen, Geflüchtete und den Feminismus für ihre Lage verantwortlich zu machen. Diesen Akteuren geht es leider nicht darum, den Menschen zu helfen, sondern sie wollen die Frustration und die Hoffnungslosigkeit in Wut umwandeln, um sie in die Richtung von Minderheiten zu lenken. Dieser Trend war noch nie ein gutes Zeichen und zeigt in aller Deutlichkeit, dass ein schlechtes Versorgungsnetzwerk für psychische Gesundheit, letztlich nicht nur eine Gefahr für das Gesundheitssystem, sondern auch für die Demokratie an sich ist.

 

Forderung:

  • Schaffung von mehr Kassensitzen für Psychotherapeut*innen. In Deutschland gibt es genügend Menschen, die sich für den Beruf des Psychotherapeuten/der Psychotherapeutin entschieden haben, um den wachsenden Bedarf zu decken. Es ist dringend notwendig den 20 Jahre alten Fehler zu korrigieren und die Versorgung für die Versicherten zu gewährleisten. Insbesondere junge Menschen leiden stark unter den Fehlern im System. Als 2020 die Corona-Pandemie begann, wurde sehr häufig an die Solidarität appelliert. Es waren vor allem Kinder und Jugendliche, die sich zweieinhalb Jahre lang immer wieder solidarisch gezeigt haben. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Solidarität nicht unerwidert bleibt. Eine vorläufige erste Maßnahme, die noch bei weitem nicht ausreichen würde, wäre eine Absenkung der Verhältniszahlen für die Arztgruppe der Psychotherapeut*innen um mindestens 20%. Dadurch wäre ein Psychotherapeut für weniger Einwohner*innen zuständig und diese Maßnahme hätte eine Zunahme von ca. 1.600 Kassensitzen zur Folge.
  • Aktuell werden Kinder- Jugendpsychotherapeut*innen (KJPler) und Erwachsenen- Psychotherapeut*innen zur selben Gruppe in der Bedarfsplanung gezählt. KJPler dürfen jedoch keine Erwachsenen therapieren und umgekehrt. Da sich der Anteil an KJPlern gemessen an allen Psychotherapeut*innen nicht mit dem Verhältnis der Kinder und Jugendlichen gemessen an allen Patient*innen deckt, müssen die Wartezeiten für Kinder und Jugendliche über eine eigene Bedarfsplanung gezielt abgebaut werden.
  • Transparenz über die Verfügbarkeit von Therapieplätze und Gruppenangebote in Form von einem bundesweiten Register stärken
  • Demokratische Legitimierung des Gemeinsamen Bundesausschusses
  • Eine einheitliche Aufklärungskampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zum Thema psychische Gesundheit

 

Quellen

 Jeder vierte Erwachsene leidet innerhalb eines Jahres an einer psychischen Erkrankung: https:// www.dgppn.de/schwerpunkte/zahlenundfakten.html#:~:text=Bundesweit%20erfü llt%20mehr%20als%20jeder,Störungen%20durch%20Alkohol- %20oder%20Medikamentengebrauch.

 Age of Onset psychische Erkrankungen: https://bptk.de/pressemitteilungen/fast-20-prozent-erkranken- an-einer- psychischen-stoerung/

 Psychotherapie ist wirksam: Margraf, J., & Schneider, S. (Hrsg.). (2009). Lehrbuch der Verhaltenstherapie.

Springer Berlin Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-540-79541-4

 Kosten-Nutzen-Analyse: https://econtent.hogrefe.com/doi/10.1026/00333042/a000154

Frühberentung und AU-Tage: https://www.deutsche-depressionshilfe.de/depression-infos-und-hilfe/ depression- in-verschiedenen-facetten/depression-und-arbeit

Erhöhtes Risiko für körperliche Erkrankungen: https://bptk.de/neuigkeiten/psychische-erkrankungen-schaedigen-das-herz ; https://

www.orthomol.com/de-de/lebenswelten/immunsystem/psychoneuroimmunologie ; https:// www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC10133031/

Erhöhtes Risiko für Suizid: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1174574.sterbehilfe-suizid-betroffenen- helfen- statt-absichten-foerdern.html

Suizide bei 15-24 jährigen: https://web.de/magazine/ratgeber/kind-familie/suizid-haeufigste- todesursache- juengeren-wissen-36299342

Kinder psychisch kranker Eltern: https://www.laekh.de/heftarchiv/ausgabe/artikel/2021/11-2021- november- 2021/kinder-psychisch-kranker-eltern

142 Tage Wartezeit: https://bptk.de/pressemitteilungen/psychisch-kranke-warten-142-tage-auf-eine- psychotherapeutische-behandlung/

Wartezeiten: https://www1.wdr.de/nachrichten/psychotherapie-platzsuche-tipps-100.html

Fehlerhafte Bedarfsplanung: https://bptk.de/stellungnahmen/willkuerliche-berechnung-und-formaler- fehler/

Versorgung laut KBV: https://gesundheitsdaten.kbv.de/cms/html/17016.php

Aktuelle Studie der UdS zur psychischen Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen: https://www.uni- saarland.de/aktuell/guckhin-studie-erste-ergebnisse-26897.html

Pressemitteilung der Bundespsychotherapeutenkammer: https://api.bptk.de/ uploads/20230713_B_Pt_K_Pressemappe_b45bb35bb0.pdf

Versorgung Kinder und Jugendliche: https://bptk.de/stellungnahmen/psychische-gesundheit-von- kindern-umfassend-in- den-blick-nehmen/

Zusammenhang mit sozioökonomischem Status: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/ PMC6415852/

Höheres Risiko für Kinder und Jugendliche: https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/23746605/